Kennen Sie das Gefühl, das sich einstellt, wenn ein Gast zu lange bleibt?
Das Abendessen samt Dessert ist längst verzehrt und zwischen zwei Schlucken Wein wirft man immer wieder mal einen verstohlenen Blick auf die Uhr und hofft, dass die fortschreitende Stunde den Abend irgendwann barmherzig beenden wird und man danach wieder seine Ruhe hat.
Ähnlich geht es uns mit Corona – mit dem Unterschied, dass es sich bei Corona keineswegs um einen geladenen Gast, sondern um einen ungebetenen Eindringling handelt. Ein Eindringling, der schnellstmöglich verschwinden und uns in Ruhe lassen möge, auf dass wir unseren (mehr oder weniger) friedlichen Alltag wieder zurückbekommen. Doch der ungebetene Gast wird wohl noch eine Weile bleiben und seine mutierten Freunde stehen auch schon vor der Tür.
Angesichts dieser Lage könnten wir uns ganz klassisch eine Nachdenkpause verordnen. Wir könnten zum Beispiel darüber nachdenken, ob wir unsere alte Welt tatsächlich 1:1 wiederhaben möchten.
Vor zwei Wochen, am 3. Januar, hat eine junge Frau, die schon vor Corona ganz konkrete Vorstellungen für die Zukunft hatte, ihren 18. Geburtstag gefeiert. Im August 2018 ging das Foto eines bis dato unbekannten 15-jährigen Mädchens, das vor dem schwedischen Parlament in Stockholm streikte, um die ganze Welt. «Schulstreik fürs Klima», war auf dem Schild des Mädchens zu lesen. Nur knapp vier Monate später sprach Greta Thunberg zu den Delegierten der UN-Klimakonferenz in Kattowitz (Polen). Millionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat Greta Thunberg gezeigt, dass es möglich ist, als junger Mensch etwas zu bewirken.
Welche Welt wollen wir (wieder)haben?
Im Windschatten von Corona wäre das die eigentlich wichtige Frage. Vermutlich werden wir im laufenden Jahr mithilfe der Impfung einen Umgang mit Corona finden. Der ungebetene Eindringling wird sich dann hoffentlich zurückziehen.
Die grossen ökologischen Fragen der Klimakrise und des Artensterbens lassen sich dadurch aber nicht lösen. Dafür braucht es unser Nachdenken und eine nachhaltige Veränderung unseres Lebensstils. Dass es möglich ist, bislang Unvorstellbares umzusetzen, hat die Coronakrise mehrfach bewiesen. Die Geschwindigkeit, mit der nötige Massnahmen weltweit umgesetzt wurden, und die Flexibilität ganzer Gesellschaften zeigen uns, zu welchen Anpassungs- und Veränderungsleistungen wir fähig sind, wenn ein Wille da ist. Über all das gilt es nachzudenken und dementsprechend zu handeln – solange noch Zeit dazu ist.
(Sabine Gritzner-Stoffers, Pfarrerin in Au-Heerbrugg)
Veröffentlicht im "Rheintaler" vom 16.01.2021 "Aus christlicher Sicht"