«Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können», sagt der Schriftsteller Jean Paul. Es scheint mir, je älter ich werde, desto grösser wird die Bedeutung der Erinnerung.
Aber auch in Zeiten wie diesen voller Beschränkungen hilft es mir, eine Weile in schönen Erinnerungen zu leben. In unserem Geist können wir noch einmal an die Orte verreisen, die uns bei Ausflügen und in den Ferien so viel Freu-de bereitet haben. Unser Erinnerungsvermögen überspringt Mauern und überwindet Entfernungen. In unserer Erinnerung sind auch Menschen, die verstorben sind, lebendig – und mit ihnen die vielen kostbaren Erlebnisse, die unser gemeinsames Leben ausgemacht haben.
«Erinnern», das heisst in sich gehen, innerlich werden. Darin liegt eine besondere Kraft. Erst durch unsere Lebenserfahrungen und die Tatsache, dass wir uns an sie erinnern können und somit Zugriff auf sie haben, werden wir zu Persönlichkeiten. Wir bekommen eine Lebensgeschichte. Ohne Erinnerung wären wir wie ein unbeschriebenes Blatt. Sie hilft, unser jetziges Leben zu ordnen und ein Gefühl der Sicherheit zu bekommen. Wir erkennen Vertrautes wieder im immer wiederkehrenden Ablauf des Tages und auch des Jahres mit seinen Festen, in Ritualen und immer ähnlichen Abläufen, etwa bei den Gottesdiensten in der Kirche. Das Erinnern ermöglicht uns, Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Es bringt Austausch und Verbundenheit. Sich erinnern heisst also nicht, nur rückwärts zu leben. Es hilft uns im Hier und Jetzt.
Auch in der Bibel spielt das Erinnern eine wichtige Rolle. Der Mensch erinnert sich an das, was Gott Gutes für ihn getan hat. Und auch Gott erinnert sich an seine Menschen. Das Erinnern Gottes ist oft mit einer heilsamen Zuwendung, mit einer Hilfe verbunden. Gott erinnert sich an seine Versprechen, uns nahe zu sein. Und die Menschen werden immer wieder daran erinnert, dass sie mit Gott Auswege aus ausweglosen Situationen gefunden haben. Da ist etwas doch noch gut gegangen, da hat sich eine Lage zum Guten gewendet, da habe ich das Gefühl gehabt, trotz allem nicht allein gewesen zu sein: Erinnerungen an Gottes Wirken in einem Leben.
Lassen wir uns möglichst oft erinnern an das Gute, die Freundschaft und die Liebe, kurz den Segen, den wir in unserem Leben erfahren haben. Fotos, Geschenke, ein Stein von einer Wanderung sind greifbare Erinnerungen. Mögen die guten Erinnerungen uns begleiten und neue Erlebnisse möglich sein, die zu guten Erinnerungen werden können.
Manuela Schäfer, Pfarrerin in Berneck
(Veröffentlicht im Rheintaler vom 24.04.2021)