Vor kurzem habe ich in meiner Studienzeit die Welt der Häfen erkundet. Von den Seeleuten erhielt ich so manchen technischen Nachhilfeunterricht über Bau und Funktionsweise der Schiffe. Ein Fachbegriff brachte mich zum Nachdenken über mein eigenes Metier. Da gibt es ein Metallstück, das nahe von wichtigen Teilen, die sich unter Wasser befinden, wie der Schiffsschraube, angeschweisst ist. Durch chemische Prozesse rostet dieses Metallstück anstelle des gefährdeten wichtigen Bauteils. Es zersetzt sich und opfert sich sozusagen auf, um etwas anderes zu schützen. Tatsächlich wird dieses Objekt «Opferanode» genannt.
In diesen Tagen denken wir an die Leidenszeit und den Tod Jesu. Er hat die grenzenlose Liebe Gottes zu den Menschen verkörpert, gelehrt und gelebt. Das brachte ihn in Konflikt mit den religiösen und politischen Autoritäten seiner Zeit. Er wurde zum Tode verurteilt und starb am Kreuz. Das deuteten seine Nachfolgerinnen und Nachfolger so, dass Jesus für die Seinen gestorben ist, sich hingegeben und geopfert hat für die Menschen. Jesus tritt an die Stelle derer, die eigentlich schuldig geworden sind. Er geht aus freiem Willen in den Tod und wird damit zur «Opferanode». Ein solcher Gedanke ist für viele heute schwer zu verstehen und auch kaum zu ertragen. Ein Opfer zu sein ist unter Jugendlichen so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann. Wir pochen darauf, dass jeder selbst verantwortlich ist für sein Leben und seine Taten. Wenn sich jemand eines Vergehens schuldig macht, kann ihm juristisch niemand die Verurteilung und Strafe abnehmen. Und doch sehe ich es auch in meinem Alltag, dass Menschen etwas auf sich nehmen und für etwas geradestehen, wofür sie nichts können: Eltern für die Taten ihrer Kinder und auch umgekehrt; junge Menschen für den über Generationen verschuldeten Klimawandel; Arbeitskollegen, die den Rüffel des Chefs kassieren, ohne mit den Fingern aufeinander zu zeigen.
Das Opfer Jesu umfasst alle menschlichen Lebensbereiche. Er hat Gottes Liebe bis ins letzte gelebt und die Menschen, die das für sich annehmen, untrennbar mit Gott verbunden. Seine Geschichte endet nicht mit dem Tod. Gott hat Jesus und alles was er getan hat ins Recht gesetzt und bestätigt durch Ostern. Das Leben siegt. Alles was uns zerfrisst und zerstört, angreift und zersetzt wie das rostige Metall, ist für alle Zeiten in seine Schranken gewiesen und kann uns letztendlich nichts anhaben. Jesus hat die todbringenden Kräfte auf sich gelenkt und ermöglicht denen, die ihm nachfolgen, ein Leben in Freiheit und Liebe.
(Pfrin. Manuela Schäfer, erschienen im "Rheintaler am 14.04.2022)