In einer deutschen Kleinstadt befindet sich das «Arolsen Archiv» mit Dokumentensammlungen über die Opfer und Überlebenden des Nationalsozialismus. Darin sind rund 30 Millionen Akten mit Hinweisen auf die Schicksale von 17,5 Millionen Menschen aufbewahrt. Massenhaft Namen, Zahlen, Orte, Daten, Fakten wie Sand am Meer unüberschaubar.
Sie könnten schnell verloren gehen und verstauben in dunklen Archivschränken, bedeutungslos werden nach so langer Zeit. Doch die Verantwortlichen stellen sich ihrer Aufgabe, mit den Chancen des Internets. Sie bauen das weltweit grösste Onlinearchiv auf, als digitales Denkmal für die Menschen, die damals verfolgt wurden. Ziel ist, dass jeder / jede von überall aus kostenfrei im Internet recherchieren, sich über Schicksale informieren, Forschung betreiben oder Familiengeschichten rekonstruieren kann.
Doch wie kann man diese Herkulesaufgabe bewältigen und die Daten auf Papier ins Internet stellen?
Mehr als 21000 Freiwillige, darunter ganze Schulklassen aus der ganzen Welt, helfen dabei, die Formulare abzutippen. Sie diskutieren, korrigieren einander, finden neue Informationen. Das Projekt heisst «Jeder Name zählt».
Eine Kerze brennt an meinem Schreibtisch, während ich die Namen von Menschen eingebe, die in Konzentrationslagern interniert waren: Iwan, Lea, Karol. Ich lese, wo sie gewohnt haben, wann sie Geburtstag hatten, sehe ihre Nationalität und welche Religion sie hatten. Gedanken mache ich mir auch über diejenigen, die diese Häftlingskarten ausgefüllt haben. Gewissenhaft und korrekt haben sie die Daten aufgenommen, so wie ich jetzt Jahrzehnte später, allerdings aus anderen Motiven. In meiner Muttersprache, mit gestochener oder kunstvoll geschnörkelter Schrift, haben sie aus ihrer Gesinnung heraus über Menschen befunden: «arbeitsscheu» oder «Gesichtsform: Zigeuner», steht da. Die Beurteilungen von bürokratischen NS-Verbrechern sind es nicht, die von einem Menschen bleiben. In stundenlanger Freiwilligenarbeit nehmen sich Volontäre heute mit Hingabe den Schicksalen der Menschen an und wirken mit, dass sie nicht vergessen werden. Jeder Name zählt. Dann wird ein Leben unter Milliarden sichtbar. Das ist die Perspektive Gottes. «Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir.» Gott erinnert sich für alle Zeiten an uns. In seinem Gedächtnis sind wir aufgehoben, auch wenn es einmal niemanden mehr geben wird, der sich an uns erinnert. Das tröstet, wenn wir in diesen Tagen an unsere Verstorbenen denken. Das gilt für uns und für alle Toten über Zeit und Raum hinweg.
(Manuela Schäfer, Pfarrerin in Berneck)
Veröffentlicht im "Rheintaler" vom 6.11.2021